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Dienstag, 10. November 2009

Der Schriftsteller als Seher: Mein Mauerfallgedicht, gedichtet am 2. Juni 1987


Am 28. Mai 1987, dem Tag des Grenzsoldaten in der Sowjetunion, landete der 18-Jährige Mathias Rust* aus Wedel mit einem Flugzeug vom Typ Cessna 172 P[1] auf einer Brücke unweit des Roten Platzes in Moskau. Nach seinem Flug sagte er, dass er ihn für den „Weltfrieden“ und die „Verständigung zwischen unseren Völkern“ unternommen habe. Seine Aktion ist als „Landung auf dem Roten Platz“ in der ganzen Welt bekannt geworden.

*Weitere Infos zu ihm gibt es u. a. auch hier

Für meine Creative-Writing-Werkstatt, den „Lichterfelder Bleistiftspitzen“, in der wir uns Jahre lang jeden Montag trafen, um zu schreiben und uns im Schreiben fortzuentwickeln, war das natürlich ein willkommener Schreibanlass. Und so schrieb ich dieses Gedicht:

Landung auf dem Roten Platz in Moskau

Es war einmal eine Stadt
und um diese Stadt war eine Grenze
mit Stacheldraht und Todesstreifen
Wachtürmen – Bewachern

Und durch diese Stadt war eine Mauer gebaut
und sie trennte
Menschen, die eine Familie waren
Menschen, die Kollegen waren
Menschen, die sich liebten

Vorher gab es schon einmal
Lager – Städte fast –
mit Stacheldraht
Schäferhunden
Minen
Heute sind sie Museen, mit Blut getränkt

Und in einem fernen Land
stand eine große Mauer
die wurde gebaut
gegen die Eindringlinge
von den Ländern im Westen, im Norden

Und einst gab es eine Mauer,
die zerbrach durch den Klang von Trompeten

Menschen überwinden jede Mauer
– irgendwann –
jede Grenze
– irgendwann –
und Minengürtel
– irgendwann –
durch Mut
durch Liebe
durch Vernunft

Die Menschen aber aus jener Stadt
mit Todesstreifen und Mauer
waren noch nicht so weit
da war noch nicht genug Mut
genug Liebe
genug Vernunft

Dann war da einer
der flog mit einem Ballon
über die Grenze
ein anderer mit einem Flugzeug

Man muss nur eine Idee haben
einen Anfang machen
muss es wagen

Jene Stadt
sie gibt es noch
mit Mauer – Grenze – Stacheldraht
aber – wirklich noch lange?

Jutta Miller-Waldner

FLAUBERT schreibt im Juli 1853 an Louise COLET :
Ich habe heute einen großen Erfolg gehabt. Du weißt, daß wir gestern das große Glück hatten, Herrn Saint-Arnaud in unserer Mitte weilen zu sehen. Heute morgen habe ich im Journal de Rouen einen Satz des Bürgermeisters gefunden, der eine Rede auf ihn gehalten hat. Diesen Satz hatte ich am Tag vorher wörtlich in der Bovary geschrieben (in einer Rede des Präfekten auf der Landwirtschaftsausstellung). Es war nicht nur derselbe Gedanke, es waren nicht nur dieselben Wörter, sondern sogar dieselben Stilassonanzen. Ich verhehle nicht, daß solche Sachen mir Freude machen. Wenn die Literatur zu einer solchen Genauigkeit des Ergebnisses wie die exakten Wissenschaften kommt, ist das beachtlich.
Unsere Texte spiegeln eben nicht nur die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, sondern antizipieren die Zukunft. Anlehnend an Auguste COMTES Prinzip: „Savoir pour prévoir“ – Wissen, um vorherzusehen – heißt es für den Schriftsteller: Schreiben, um vorherzusehen.

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